Cyberraum und Kohlenstoffwelt sind keine getrennten Planeten

Christliche Gemeinschaft im Netz - eine Spurensuche

Gemeinschaft und Verbundenheit sind für unser Leben und unseren Glauben ganz elementar. Glauben wird dadurch lebendig, dass er erfahren, erzählt, geteilt wird. Das interdisziplinäre Jahresprojekt „#2komma42 – VerNETZt im Glauben“ der Evangelischen Akademie im Rheinland setzt hier an (www.2komma42.de). Ein Beitrag von Studienleiterin Hella Blum in der Zeitschrift „evangelische aspekte“.

Unser Lebensumfeld prägt eine Kultur der Digitalität, die gleichzeitig unsere Handlungsweise und unsere Einstellungen, unser „Mindset“, verändert. Das Digitale ist nicht das Land jenseits des Bildschirms, sondern Virtuelles und Reales mischen sich in unserer Kommunikation und Wahrnehmung schon längst. Dabei hat das Virtuelle eigene Stärken, auch für kirchliches Engagement. 2komma42 macht sich auf Spurensuche, wie im digitalen 21. Jahrhundert christliche Gemeinschaft gelebt werden kann. Im Folgenden möchte ich Einblicke in diese Spurensuche geben.

Der gemeinsame Wohnort als Bezugspunkt einer einladenden Gemeinde
2018 erhielt die Kölner Philippus-Gemeinde den Medienpreis der Evangelischen Kirche im Rheinland, einen Preis für digitale Projekte, die das gemeindliche Leben bereichern oder fördern. Zum Einzugsgebiet der Philippus-Gemeinde gehören viele junge Familien und neu Hinzugezogene, die gut über die sozialen Medien zu erreichen sind. Deshalb wählte die Gemeinde den Weg über Instagram, um „Gesicht zu zeigen“, ins Gespräch zu kommen. In kleinen Bild-Text-Geschichten porträtiert sie Menschen, die in dem Quartier leben. Kirchenmitgliedschaft ist weder Voraussetzung für ein Porträt noch für Interesse an dem Kanal. Der gemeinsame Wohnort ist der Anknüpfungspunkt. Daraus kann mehr Gemeinschaft erwachsen, der Instagram-Kanal öffnet eine Tür und ist verbunden mit einer Willkommenskultur der Gemeinde vor Ort. Gemeinschaft entsteht hier aus einem Mix aus digital und analog.

Gemeinsame Interessen als starke Basis für digitale Gemeinschaft
Andere Christ*innen sind im Digitalen durch ein gemeinsames Anliegen verbunden. Sie nutzen das Netz als Plattform für ihr gemeinschaftliches Engagement, manche regional, manche ohne lokalen Bezug.  Ein Beispiel dafür sind kirchliche Gruppen in den sozialen Medien, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Ein anderes Beispiel sind kirchlich Engagierte, die in zivilgesellschaftlichen Gruppen mitwirken, z.B. bei Initiativen gegen Hassrede im Netz oder gegen den Klimawandel.

Das Netz bietet mehr Vielfalt, als vor Ort möglich ist. Deshalb können gleiche Lebenswelten oder ein gemeinsames Interesse über räumliche Entfernung hinweg zu einer starken Basis für digitale christliche Gemeinschaften werden, unabhängig von der Kirchengemeinde vor Ort.  Hier gibt es überraschende und ungewöhnliche Projekte. Die „Kirche der Nerds“, die „Nerdchurch“, oder das Portal „Main Quest Ministries e.V.“ sind solche Beispiele aus der Gamingszene: „Glaube trifft Nerdkultur – und lebt dort Gemeinschaft.“

Fluider sind andere Netzwerke von Christ*innen auf den sozialen Plattformen, z.B. die der sogenannten Sinnfluencer:innen,  häufig Theolog*innen oder Pfarrer*innen. Auf ihren Kanälen geben sie Einblick in ihren persönlichen Alltag, sprechen über aktuelle Themen und über ihren Glauben. Damit erreichen sie viele jüngere Menschen, die häufig nur eine lose Verbindung zur Kirche haben, aber an der Person und ihren Gedanken interessiert sind. Die Pfarrerin Josefine Teske aus Norddeutschland hat z.B. mehr als 22.000 Follower*innen auf ihrem Instagram-Kanal @seligkeitsdinge_. Sinnfluencer:innen nutzen die Chancen des Dialogs oder werden ganz konkret als Seelsorger*in oder Ratgeber*in angefragt.

Erprobte Formate für Andacht und Gottesdienst
Gemeinschaft auf Zeit bietet trauernetz.de an, ein von der rheinischen Kirche mitgetragenes Projekt. Am Ewigkeitssonntag sind in jedem Jahr Trauernde zu einer gemeinsamen Live-Andacht per Chat eingeladen, bei der namentlich auch Verstorbenen gedacht wird, deren Tod schon lange zurückliegt.

Diese Chatandacht gibt es bereits seit 2003, mit steigendem Zuspruch. Diejenigen, die sich unter dem Stichwort #digitaleKirche bereits seit langem in den verschiedenen Landeskirchen engagieren, können auf weitere, erprobte Formate für Gemeinschaft bei Andacht und Gottesdienst online verweisen.  So lädt auf dem Social-Media-Dienst Twitter ein ökumenisches ehrenamtliches Team seit 2014 zu einer gemeinsamen Abendandacht, der #twomplet, ein. „Wir bilden eine Gemeinschaft, die sich im Gebet trägt und die mittlerweile auch in der Kohlenstoffwelt …zu ganz realen Freundschaften gefunden hat“,  erzählt Iris Battenfeld, evangelische Pfarrerin und Mitbegründerin.

Weit entfernt, gefühlt ganz nah beieinander
Gute Erfahrungen hat #digitaleKirche auch mit Gottesdiensten gemacht, die live im Netz oder gleichzeitig im Netz und vor Ort, also hybrid, gefeiert werden und Echtzeit-Austausch bieten: Besucher*innen bringen online ihre Gedanken ein und sie werden mit in die Fürbitten aufgenommen. So kann Gottesdienst-Gemeinschaft an ganz neuen Orten entstehen, wie 2017 anlässlich des Reformationsjubiläums bei einem Social-Media-Gottesdienst in einem Systemhaus, zu dem die Evangelische Kirche im Rheinland und die Evangelische Akademie im Rheinland eingeladen hatten. Oder an weit voneinander entfernten Orten: Per Skype haben Jugendliche aus dem Kongo und aus dem Saarland 2016/2017 auf unterschiedlichen Kontinenten gemeinsam  Gottesdienste gefeiert und es so beschrieben: „Als ob man nebeneinanderstünde… so entstand ein gemeinsames Gottesdienstgefühl.“ Ähnliches erlebte Till Christofzik, Studienleiter an der Akademie, in den Gemeinden der United Church of Christ auf den Philippinen, die viele Mitglieder in Übersee hat: „Das Digitale ermöglichte Vertrautes zu erhalten und Gemeinschaft zu erfahren, auch wenn man tausende Kilometer entfernt war.“

Die Corona Pandemie, die uns physische Distanz abverlangt, hat in den Kirchen zu mehr Offenheit gegenüber digitalen Möglichkeiten geführt, um miteinander verbunden zu bleiben. Manche Kirchengemeinden haben regelmäßig ermutigende Impulse per Messenger geschickt oder abendliche Zusammentreffen per Zoom angeboten. Vielerorts wurde während des Lockdowns zum ersten Mal der Gottesdienst als Video aufgenommen oder live gestreamt.

Online-Angebote – Potenzial der Erneuerung und Veränderung?
Die meisten dieser gut besuchten Online-Gottesdienste strahlten insbesondere in den Nahbereich aus: Die Gemeinde vor Ort feierte nun gemeinsam Gottesdienst im Netz und knüpfte dabei an vertraute Stimmen und Orte an. Zunächst aus der Situation entstanden, könnten sich Formate mit einem Mix aus Gottesdienstbesuch vor Ort und online und reine Online-Angebote nach der Pandemie als Formen des (sonntäglichen) Gottesdienstes etablieren. Zumindest zeigen Ergebnisse erster Studien zum Gottesdienstbesuch in der Corona-Zeit, dass es dazu Bereitschaft sowohl auf der Seite von Pfarrer*innen als auch von Gottesdienstbesucher*innen gibt. Welche Rolle wird die Gemeinde vor Ort spielen, wie wird sich die Liturgie ändern, wie wirken sich die neuen Formen auf das Kirchenverständnis und Gemeindeleben aus? Das alles bedarf noch weiterer praktischer Erfahrungen und theologischer Reflexion.

Auch in den sozialen Medien sind in der Corona-Zeit neue Formate entwickelt worden, die ebenfalls Vertrautheit und Nähe, jedoch losgelöst von örtlichen Strukturen, erfahrbar machen. Pfarrer*innen und Theolog*innen starteten z.B. eine Aktion unter dem Hashtag #ansprechbar, um Menschen in der schwierigen Zeit online zu begleiten. Interaktive Andachten wie #instapulse des Kölner Pfarrers Nico Ballmann haben rasch eine eigene Gemeinde, eine „Community“, gewonnen. Nicht erst in der Corona-Zeit, sondern schon seit längerem bietet die Online-Kirche der Evangelischen Kirche Mitteldeutschlands Gelegenheit, christliche Gemeinde ortsübergreifend im digitalen Raum zu erfahren und selbst mit zu gestalten: gemeinsamer Gottesdienst, gemeinsames Engagement, gemeinsames Beten, Seelsorge – all das ist hier möglich.

Gemeinschaft und/oder (herkömmliche) Kirchenmitgliedschaft?
Es gibt noch viele weitere spannende Projekte, es gibt Fragen, theologische, datenethische, die hier erst einmal außer Acht bleiben mussten. Doch vielleicht ist eines deutlich geworden: Der digitale Raum öffnet für Christ*innen neue Möglichkeiten für Teilhabe, Partizipation, Gemeinschaft, in kirchlichen Ordnungen und darüber hinaus.

Christliche Gemeinschaft entsteht dort, wo Menschen sich verbunden fühlen, einander nah sind, gemeinsame Interessen teilen, ihren Glauben leben, vor Ort oder im digitalen Raum. Grenzen werden dabei durchlässig, die Grenzen der Kirchengemeinden ebenso wie die Linien zwischen analogen und digitalen Begegnungen, zwischen Menschen, die der Kirche verbunden sind, und Menschen, die der christlichen Botschaft zweifelnd oder ablehnend gegenüber stehen. Das schließt die Einheit christlicher Gemeinschaft trotz aller Verschiedenheiten nicht aus. Viele Glieder, ein Leib in Christus– der Korintherbrief im Neuen Testament hat es treffend auf den Punkt gebracht und es gilt genauso heute.

Zum Weiterlesen

Felix Stalder: Kultur der Digitalität. Frankfurt a.M. 2017

Daniel Hörsch: Digitale Verkündigungsformate während der Corona-Krise. Eine ad-hoc-Studie im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (Juni 2020) unter ekd.de

Informationen zu ersten Ergebnissen der Online-Studie Gottesdienstbesuch (September 2020) z.B. unter ekir.de

Zur Person:
Hella Blum, Öffentlichkeitsbeauftragte und Studienleiterin Medien an der Evangelischen Akademie im Rheinland. Der Themenbereich „Medien“ gibt Impulse zu Kirche und christlichem Leben im digitalen Wandel, stellt Best Practice vor und greift medienethische und netzpolitische Fragen auf. Darüber hinaus engagiert sich Hella Blum im Netzwerk #digitaleKirche.
Website: www.kirche-und-digitaler-wandel.de

Facebook: Hella Blum
Twitter: @hellablum
Instagram: @hellablum

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der „evangelischen aspekte“, herausgegeben von der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland e.V.

Quelle: www.evangelische-aspekte.de  (evangelische aspekte, 30. Jahrgang, Heft 4, November 2020)